Die „ideale Führungskraft“ für selbststeuernde Organisationen

Führung und Selbstorganisation scheinen ein krasser Widerspruch zu sein. In diesem Blogbeitrag zeige ich, dass Führungskräfte entscheidend für den Erfolg selbststeuernder Organisationen sind. Und ich gebe einen Überblick über das zugrunde liegende Führungsverständnis sowie ein erfolgreiches Führungsmodell für selbststeuernde Organisationen.

Dieser Artikel ist unter den Top-10 der Best of Schwarmorganisation 2017-2020.

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Selbstorganisation

Wenn sich Menschen aus eigenem Antrieb und voller Begeisterung zusammenfinden, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Wenn sie das immer wieder in unterschiedlichen Team-Zusammensetzungen tun, sobald sich Anforderungen oder Rahmenbedingungen ändern. Wenn sie sich auf die besten Lösungsansätze einigen. Und auf die beste Art der Zusammenarbeit. Dann erleben wir eine selbststeuernde Organisation in Vollkommenheit. In ihr organisieren sich empowered Teams selbst, herrschen demokratische Strukturen und wirkt eine starke Mission.

Zu dieser Gattung gehören z.B. die Schwarmorganisation, die agile Organisation, die Sociocracy und – daraus abgeleitet – die Holacracy. Aber auch in Unternehmen mit eher klassisch-hierarchischen Strukturen werden zunehmend die Vorteile der Selbststeuerung und Selbstorganisation erkannt. Sie begeben sich gerade auf den Weg in den Norden der S-Matrix, zum Gebiet der Wachstumsorganisationen.

Der Mensch neigt von Natur aus dazu, sich zu organisieren. Wenn sich Menschen aus irgend einem Grund treffen, bilden sie sofort formelle oder informelle Organisationsstrukturen. Je nach persönlicher Reife, intellektuellen Fähigkeiten, Kompetenzen und Erfahrungen oder offiziellen Positionen der Beteiligten erfolgt diese Selbstorganisation unterschiedlich. Und auch die sich ergebende Organisationsformen können ganz verschieden sein:

Eine archaische Stammesorganisation oder ein Patriarchat entsteht aus einer Gruppe unwissender oder verängstigter Menschen, in deren Mitte sich einer zum Schamanen oder Guru aufschwingt oder als Vater- bzw. Mutterfigur wahrgenommen wird. Er wird als Retter gefeiert. Er gibt als Anführer fortan die Richtung vor und schützt seine Horde. Setzt sich in einer Gruppe mit vielen Kämpfern ein Held oder autoritärer Platzhirsch durch, entsteht eine strenge Hierarchie von Herren und Knechten. Das geht manchmal nicht unblutig vonstatten. Führungskräfte sind hier Befehlshaber. Treffen fachkompetente, aufgeklärte Menschen auf politisch erfahrene “Macher” mit einem Regelwerk unterm Arm, entsteht eine bürokratische Matrixorganisation. Hier haben Manager und Regeln das Sagen.

Die Anforderungen an eine Führungskraft in selbststeuernden Organisationen

Aber wie entsteht eine selbststeuernde Organisationsform? Vielleicht durch die Vermeidung jeder Art von Führung? Mitnichten! Werden Führungskräfte in anderen Organisationsformen manchmal (oder öfters) als Störfaktoren wahrgenommen, entscheiden sie in selbststeuernden Organisationen über den Erfolg.

Aber stehen Führung und Selbststeuerung nicht im Widerspruch? Das hängt von der jeweiligen Sichtweise ab. Verbindet man mit Führung Effizienz, Hierarchie und Kontrolle, dann ist das sicherlich der Fall. Anders sieht es aus, wenn man Purpose, verteilte Autorität, Vertrauen und Feedback mit Führung assoziiert.

Früher hatte man Autorität und durfte reden. Heute erwirbt man sich Autorität, indem man redet. Leadership bedeutet nicht mehr, im Namen des Volkes Entscheidungen zu treffen, sondern mit diesem Volk Prozesse in Gang zu setzen. (David Van Reybrouck)

Lassen Sie uns einen Blick darauf werfen, welche Anforderungen bzw. Aufgaben Führungskräfte erfüllen, wenn sie selbststeuernde Organisationen ermöglichen.

Empowerment ist eine davon. Dabei werden Menschen bzw. Teams durch diesen neuen Typ Führungskraft ermächtigt und befähigt, Verantwortung zu übernehmen. Und zwar im ganzheitlichen Sinne: Die volle Verantwortung für überlebenswichtige Aufgaben oder Projekte. Das kann der Entwurf einer Unternehmensstrategie sein, die Entwicklung der nächsten Produktgeneration oder der Aufbau einer Organisation zum Test eines neuen Geschäftsmodells. Die Macht geht vom (Top-) Management und den disziplinarischen Vorgesetzten auf die Mitarbeitenden über. “Empowern” bedeutet unter anderem

  • Mut machen zur Übernahme von Verantwortung,
  • die Fähigkeit zur Selbstreflexion steigern,
  • Kompetenzen auf dem Gebiet der Selbststeuerung und Selbstorganisation entwickeln,
  • fachliche Exzellenz sicherstellen und
  • für “echte” Teams von optimaler Größe sorgen.

Hierarchische Strukturen werden durch demokratische Strukturen ersetzt. Das ist Basisdemokratie im positiven Sinne. Die Besetzung wichtiger Rollen und Führungspositionen erfolgt durch das Team auf Grundlage persönlicher Eignung, Kompetenz und Erfahrung der Kandidaten. Als Entscheider werden diejenigen bestimmt, die den tiefsten Einblick und größten Überblick bei einem Sachverhalt haben. Die Führungskraft schafft effiziente demokratische Strukturen

  • durch ein Regel-Gerüst und
  • eine Kultur der Selbstorganisation,
  • radikale Transparenz,
  • effiziente Entscheidungsprozesse im Team und
  • vernetzte Kollaboration.

Erfolgreiche Selbststeuerung ist nur möglich, wenn die Organisation von einer von allen geteilten, die Gefühle ansprechenden und starken Mission durchdrungen ist. Einer Mission im Sinne eines Auftrags, wirklich wichtige Ziele zu erreichen. Ziele, von denen jede und jeder im Unternehmen sagt: “Ja, dafür stehe ich jeden morgen auf!” Diese Mission zu finden ist vermutlich die größte Herausforderung für ein Unternehmen. Führungskräfte können diesen Findungsprozess unterstützen, indem sie

  • nach dem Sinn fragen und Diskussionen darüber anregen,
  • Weitblick entwickeln und andere inspirieren,
  • gemeinsame Ziele identifizieren und ausformulieren,
  • das Arbeiten auf Basis geteilter Werte fördern und
  • für einen wertschätzenden Umgang mit sich selbst, mit anderen und der Umwelt sorgen.

Der Typ Führungskraft, der diese Anforderungen erfüllt, ist ein Schwarmführer. Er ist irgendwo zwischen Teamführer und Servant Leader angesiedelt. Um diesen Typ und das zugehörige Führungsmodell geht es hier.

Auf die Anforderungen an diese neue Art von Führungskraft aus einem „agilen Blickwinkel“ gehe ich in dem Artikel Agile Führung – Persönlichkeit und Entwicklung agiler Führungskräfte ein.

Führungsmodell für selbststeuernde Organisationen

Ein Führungsmodell ist ein Hilfsmittel zur Realisierung einer bestimmten Art von Führung. Manche Führungsmodelle beschränken sich auf die Beschreibungen idealer Verhaltensweisen einer Führungskraft. Sie blenden die Persönlichkeitsmerkmale und damit verbundene unveränderliche Verhaltensanteile einfach aus.

Nach meinem Verständnis basiert ein Führungsmodell auf bestimmten Rollen. Diese werden von jeder Führungskraft auf ihre Weise durch ihr individuelles Verhalten – mehr oder weniger gut – ausgefüllt. Das Verhalten hängt zum einen von ihrem persönlichen Führungsstil ab, der maßgeblich von der Persönlichkeit geprägt wird. Und zum anderen von den Führungskompetenzen. Kompetenzen können entwickelt und neue Kompetenzen erworben werden. Damit ändert sich auch das Denken und Verhalten einer Führungskraft, wodurch Führungskräfteentwicklung möglich wird.

In dem Beitrag Agile Führung – Persönlichkeit und Entwicklung agiler Führungskräfte gehe ich im Detail auf den Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Führung ein. Er ist im Grunde eine Vertiefung dieses Artikels.

Die Rollen der Führungskraft in selbststeuernden Organisationen

Die Rollen bilden also die Basis des Führungsmodells. Sie stehen im Einklang mit der Organisationsform und der Kultur. Ändern sich die Rollen, dann wirkt sich das auf die Organisation aus. Ändert sich die Kultur, passen sich die Rollen an.

Den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Rolle und Organisation bespreche ich im Artikel Agile Rollen bestmöglich besetzen.

Ein guter Startpunkt für die Transformation einer Organisation ist, zur neuen Organisationsform passende Rollen für die Führungskräfte zu definieren. Das ist genau wie beim Schreiben einer guten Geschichte: Man erschafft zunächst die handelnden Personen und gibt ihnen eine unverwechselbare Persönlichkeit. Der Rest kommt dann “fast” von allein.

Jedes großartige literarische Werk erwächst aus Charakteren. (Lajos Egri)

Die Rollen der “idealen Führungskraft” in selbststeuernden Organisationen sind der Guide (Führer), Facilitator (Moderator), Coach und Advisor (Ratgeber). Die Rollen lassen sich gut mit Hilfe eines stilisierten Vogels darstellen:

 

  • Der Guide ist oben nahe des Kopfes, außerhalb des Körpers (der Organisation) zu finden: Sein Blick ist nach außen und nach vorne – auf die Welt und in die Zukunft – gerichtet.
  • Der Facilitator findet sich bei den Steuerfedern: Auf das Team und die Organisation fokussiert, garantiert er den erfolgreichen Flug.
  • Rechts und links in den Flügeln sind der Coach und der Advisor: Auf das Individuum und das Team fokussiert, steigern sie die Flugfähigkeit.

Die selbststeuernde Organisation befreit die Führungskräfte! Durch die verteilte Verantwortung eröffnet sie den Raum (Zeit) für strategische, in die Zukunft weisende Überlegungen. Mit den dabei gewonnenen Erkenntnissen entwerfen die Führungskräfte gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Organisation eine attraktive Vision. Dann schlüpfen sie in die Rolle des Guides und führen die Organisation in deren Richtung. Hierzu inspirieren sie die Menschen, vermitteln den Sinn hinter der Vision und begeistern sie dafür.

Der Facilitator ermöglicht die hohe Performance selbststeuernder Organisationen. Er schafft geeignete Rahmenbedingungen, moderiert innerhalb der Organisation und zwischen innen und außen, er beseitigt Barrieren und vieles mehr. Er hat vermutlich die meisten Aufgaben unterschiedlichster Art zu erfüllen. Die drei Wichtigsten:

  • Der Facilitator moderiert Entscheidungsprozesse. Hierzu bietet er geeignete Vorgehensweisen an: Konsultative Einzelentscheidungen, integrative Entscheidungsprozesse (Holakratie) oder die Einberufung eines Wisdom Council (Rat der Weisen), um nur ein paar Möglichkeiten zu nennen.
  • Er unterstützt die Entstehung echter Teams. In diesen wird von allen Mitgliedern ein Gefühl von Psychological Safety geteilt.
  • Der Facilitator ermöglicht die Lösung von Konflikten durch De-Eskalation, Moderation oder Mediation.

Die Verwirklichung einer selbststeuernden Organisation ist für deren Mitglieder teilweise eine enorme Herausforderung. In der Rolle des Coaches ermächtigt und befähigt die Führungskraft die Menschen. Im Vordergrund steht hierbei die Förderung der Selbstreflexion und Selbstwahrnehmung des “Coachees”. Dadurch erkennt er Fehlentwicklungen und deren Ursachen. So wird es ihm möglich, eigene Lösungen zu entwickeln. Der Coachee lernt, sein Denken, Fühlen und Handeln weiterzuentwickeln. In der Rolle des Coaches arbeitet die Führungskraft mit Einzelpersonen und Teams gleichermaßen.

Die Führungskraft als Coach ist umstritten, weil das in klassisch-hierarchischen Organisationsformen nicht funktionieren kann. Denn Coaching erfordert eine absolut offene und freie Kommunikation. Das ist nicht möglich, wenn der Coach gleichzeitig der disziplinarische Vorgesetzte ist. Der deutsche Coaching-Pionier Wolfgang Looss warnte schon in den 1990er-Jahren davor, Führung und Coaching miteinander zu verquicken.

Der leistungsbewertende Vorgesetzten-Wolf tritt im partnerzentrierten Schafspelz des Beraters auf. (Wolfgang Looss)

Aber: Für selbststeuernde Organisationen gilt das nicht. Denn da gibt es keine klassischen Macht-Hierarchien mit disziplinarischen Abhängigkeiten mehr. Hier können die Führungskräfte die Rolle des Coaches einnehmen.

Auch die letzte Rolle der Führungskraft in selbststeuernden Organisationen hat es in sich. Als Advisor ist es die Aufgabe der Führungskraft, bei Bedarf Lösungsprozesse anzuregen bzw. zu unterstützen. Das kann er nur als sanfter Ratgeber auf der Metaebene tun. Denn bei den typischen Herausforderungen, denen sich eine selbststeuernde Organisation annimmt, kennt auch die Führungskraft die Lösung nicht. Es wäre somit anmaßend und kontraproduktiv, sich als allwissender Experte auszugeben. Die Haltung des Advisors ist: Vertrauen und gewähren lassen.

Die beschriebene Art von Selbstorganisation finden wir meist in Unternehmensbereichen, in denen vorwiegend Wissensarbeiter tätig sind. Hier sichert die Rolle des Advisors auch die Akzeptanz als Führungskraft in einem Team von Experten.

Auf Führungsrollen und deren unterschiedliche Natur in verschiedenen Organisationsformen gehe ich in dem Artikel Agile Führung – Persönlichkeit und Entwicklung agiler Führungskräfte ein.

Persönlichkeitsmerkmale von Führungskräften in selbststeuernden Organisationen

Wie oben im Führungsmodell bereits angedeutet, beeinflusst die Persönlichkeit eines Menschen ihren Führungsstil. Und sie bestimmt auch darüber, welche Kompetenzen sich jemand aneignen kann oder will. Beides, Führungsstil und Kompetenzen, legen das Führungsverhalten fest.

Daher kommt der Führungspersönlichkeit eine besondere Bedeutung zu. Verfügt eine Person nicht über bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, ist sie als Führungskraft in selbststeuernden Organisationen ungeeignet. Besonders wichtige Persönlichkeitsmerkmale von Schwarmführern sind:

  • Demut, im Sinne von Mut zum Dienen und als das Gegenteil von Narzissmus (Hochmut-Mut-Demut)
  • Integrität als Voraussetzung für Vertrauen im Sinne von Ehrenhaftigkeit und Ehrlichkeit
  • Wertschätzung, die sich in Form von Menschenliebe und Akzeptanz ausdrückt
  • Mut zur Übernahme von Verantwortung
  • Veränderungsbereitschaft hinsichtlich Themen, der eigenen Position, des Wirkungsbereichs, der Organisationsform und vieler anderer Aspekte

Die Kompetenzen der Führungskraft in selbststeuernden Organisationen

Der Aufzählung wichtiger Persönlichkeitsmerkmale schließe ich gleich eine von Führungskompetenzen an. Derer gibt es viele, ich beschränke mich auch hier auf die fünf Wichtigsten:

  • Kommunikation als das Basiswerkzeug für Führung; wie sonst können Menschen inspiriert, begeistert, gewonnen und bewegt werden?
  • Rollenflexibilität, um die Rollen einer Führungskraft authentisch und gut auszufüllen
  • Psychologie als Grundlage für das Verständnis menschlicher Verhaltensweisen und der Dynamik in sozialen Systemen
  • Konfliktmanagement, denn Konflikte sind in einer selbststeuernden Organisation an der Tagesordnung und eine unerschöpfliche Quelle für neue Ideen und Lösungsansätze
  • Vertrauen – ja, Vertrauen ist eine Kompetenz!

Vertrauen ist eine Kompetenz, die sich ein im Leben gereifter Mensch erworben hat. (Wolfgang Holeschak)

Die Entwicklung von Kompetenzen ist ein langwieriger Prozess: Die Bereitschaft zum Wissenserwerb entwickeln, das Lernen, die praktische Anwendung zur Verfestigung des Wissens und Erfahrungsaufbau im operativen Einsatz. Dieser Umstand ist für flexible, demokratische Organisationen von besonderer Bedeutung. Denn diese benötigen einen großen Pool potenzieller Führungskräfte, um auf veränderte Rahmenbedingungen und neue Herausforderungen mit passenden Führungskräften reagieren zu können. Daher muss jedes Mitglied der Organisation Führungskompetenzen jederzeit erwerben können, auch wenn die Übernahme von Führungsverantwortung nicht unmittelbar erkennbar oder konkret geplant ist.

Der Führungsstil und das Verhalten einer Führungskraft in selbststeuernden Organisationen

Führungsverhalten und Führungsstil sind nicht wirklich trennscharf. Beide beschreiben Aspekte einer Führungskraft, die von den Mitarbeitenden wahrnehmbar sind:

  • Der individuelle Führungsstil ist die Art und Weise, wie eine Führungskraft mit Mitarbeitenden umgeht. Er ist Ausdruck ihrer Haltung gegenüber Mitarbeitenden und ihres Menschenbildes.
  • Das Führungsverhalten ist das von außen erkennbare Agieren einer Führungskraft. Das umfasst ihr Auftreten (Selbst-Inszenierung), ihre verbale und non-verbale Kommunikation sowie ihr Vorgehen.

Die gute Nachricht ist: Eine Führungskraft kann ihr auf Kompetenzen basierendes Führungsverhalten durch praktische Erfahrung, Coaching und Training verändern und verbessern. Somit kann sie Verhaltensweisen entwickeln, die ihren Wertbeitrag in selbststeuernden Organisationsformen erhöht. Geeignete Verhaltensweisen finden sich teilweise in Führungsmodellen aus anderen Bezügen: Laterale Führung, Teammanagement nach Blake/Mouton, die situative Führung oder transformationale Führung. Ich gehe an dieser Stelle nicht auf die verschiedenen Schulen ein, um den Rahmen dieses Übersichtsartikels nicht zu sprengen.

Praxisbeispiele für Führung in selbststeuernden Organisationen

Es gibt Pioniere auf dem Gebiet selbststeuernder, hierarchieloser Organisationen wie Semco oder W. L. Gore. Diese haben bereits vor mehreren Jahrzehnten Elemente des hier vorgestellten Führungsmodells umgesetzt und schreiben bis heute Erfolgsgeschichte. Das Führungsmodell findet zunehmend Anklang. Es wird aber mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten und Ausprägungen umgesetzt. Drei Beispiele mögen das illustrieren.

Einer der Pioniere ist der 1958 gegründete Kunststoff-Produzent W. L. Gore (Gore-Tex). Der Konzern beschäftigt weltweit 10.000 Menschen. Das Unternehmen folgt von Anfang an der Philosophie: So wenig Hierarchie wie möglich. Die Mitarbeiter heißen Associates (Teilhaber), denen keine Aufgaben zugewiesen werden – sie verpflichten sich selbst. Ihren Interessen und Stärken folgend stoßen sie eigene Projekte an und suchen unter ihren Kollegen Mitstreiter. Die Führungskräfte sind keine Corporate Monkeys, die eine Karriereleiter empor klettern. Vielmehr kristallisiert sich mit der Zeit heraus, ob sich ein Mitarbeiter als Führungskraft eignet (Natural Leadership). Starke Indizien dafür sind entsprechende Bewertungen der Kollegen oder ein häufiger Einsatz als Coach für neue Mitarbeiter. Dagegen spricht, wenn Kollegen den Ideen der betreffenden Person nicht folgen. Wer eine Führungsposition bekleidet, kann sie dadurch auch wieder verlieren.

Der damals 21-jährige Ricardo Semler übernahm 1980 das brasilianische Maschinenbau-Unternehmen Semco von seinem Vater. Es wurde von ihm vollkommen umstrukturiert und gilt heute als ein Vorzeigeunternehmen für demokratische Strukturen. An seinem ersten Arbeitstag verkleinerte er das Top-Management um 60%. Semler reduzierte die ehemals zwölf Hierarchieebenen auf drei. Es wurde soviel Entscheidungsgewalt wie möglich an die Mitarbeitenden übertragen. Alle Mitarbeiter haben Zugriff auf alle Informationen. Sie stellen neue Mitarbeiter ein und legen fest, wann sie neue Produkte herstellen wollen und zu welchen Preisen diese verkauft werden. Auch entscheiden die Mitarbeiter selbst, wie lange sie arbeiten und wie viel Geld sie dafür bekommen. Der Umsatz stieg von 4 Millionen US-Dollar im Jahr 1982 auf 212 Millionen im Jahr 2003 (eine Steigerung von 21 % p.a.). Die Anzahl der Beschäftigten stieg von 90 auf 3.000. Das Unternehmen unterstützt heute als Semco Partners andere Unternehmen beim Eintritt in den brasilianischen Markt. Es berät zudem Unternehmen bei der Verwirklichung des Semco-Modells (Semco Style).

Beim Videospiele-Produzenten Valve (u.a. Half Life, Counter-Strike) kennen die Mitarbeiter seit dessen Gründung im Jahr 1996 ebenfalls nur eine extrem flache Hierarchie. Sie organisieren sich in Projekten. Sie entscheiden selber, mit wem die Projekte besetzt sein sollen. Über die Entlohnung des Einzelnen entscheidet ein Bewertungssystem durch die Kollegen. Im öffentlich zugänglichen Handbuch für neue Mitarbeiter (Valve’s Handbook for New Employees) werden die Organisations- und Führungsprinzipien detailliert vorgestellt: Warum exzellente Wissensarbeiter in Macht-Hierarchien nicht glücklich sind, welche Herausforderungen aber dennoch für neue Mitarbeiter bestehen und wo die Organisation besser werden muss.

Es gibt aber auch Negativbeispiele. Unternehmen und Methoden zur Führungskräfteentwicklung, deren Rückwärtsgewandtheit den Beobachter mit einem mulmigen Gefühl zurücklässt.

Bei der Allianz in München müssen sich Führungskräfte zum Beispiel als Befehlshaber in Kriegssimulationen bewähren. Der Vorstandschef Oliver Bäte lässt die Führungsmannschaft mit einer Truppe ehemaliger US-Militärs schnelle Entscheidungen nach militärischem Vorbild einüben. Auch das derzeit in Mode kommende Pro Bono Volunteering ist eher fragwürdig. Hier werden Führungskräfte für kurze Zeit in Entwicklungsländer entsandt, um dort Projekte zu unterstützen. Man verspricht sich davon, verloren gegangene Führungskompetenzen neu zu entdecken. So überaus begrüßenswert und wertvoll das soziale Engagement ist: Herausforderungen wie die Motivation hoch qualifizierter Wissensarbeiter oder die Förderung von Selbstorganisation in Unternehmen sind sicher nicht die drängendsten Probleme Ghanas. Dann werden noch immer einige Klassiker heiß gehandelt. Aber beim Führen von Segelbooten, Pferden oder Lamas werden eher Haltungen und Kompetenzen von Führungskräften in strengen Hierarchien vermittelt.

Sind Sie eine Führungskraft für selbststeuernde Organisationen?

Dieser Artikel liefert eine Übersicht über einige relevante Aspekte zur Führung in selbststeuernden Organisationen. Er bleibt dabei an der Oberfläche. In anderen Beiträgen vertiefe ich die Rollen, Kompetenzen und das Verhalten von “Schwarmführern”, liefere Praxiswissen und gebe Tipps für die persönliche Weiterentwicklung.

Vielleicht ist es für Sie aber interessant, jetzt schon ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie nahe Sie dem “Ideal” einer Führungskraft für selbststeuernde Organisationen kommen. Hierfür stelle ich Ihnen ein Tool zur Verfügung. Dieses steht Ihnen als Premium Content kostenlos zur Verfügung.

Es zeigt Ihnen in einem Diagramm, zu welcher Art von Organisation Sie als Führungskraft heute passen. In erster Linie regt es aber zum Nachdenken an.

Ich finde es schwierig, zwischen stabilen Persönlichkeitsmerkmalen und entwickelbaren Kompetenzen zu unterscheiden. Ist Authentizität ein Merkmal der Persönlichkeit oder eine Kompetenz? Lässt sich Offenheit trainieren? Kann Empathie erlernt werden? Was sagen Sie? Welche Eigenschaften einer “idealen Führungskraft” für selbststeuernde Organisationen muss jemand mitbringen und welche kann er entwickeln?