Ambidextrie – Die Rettung für Unternehmen in dynamischen Märkten

Ambidextrie ist die schnellste Möglichkeit, klassisch aufgestellte Unternehmen „flott“ zu machen. Das heißt, sie so aufzustellen, dass sie die – sich immer schneller ändernden – Anforderungen ihres Marktes erfüllen können.

Lesen Sie in diesem Beitrag, warum Ambidextrie für viele Unternehmen buchstäblich die letzte Rettung ist, was Ambidextrie genau ist, welche Herausforderungen sie für die Unternehmen bereithält und wie sie in der Praxis realisiert werden kann.

Zu diesem Beitrag gibt es Premium Content: Eine praxisorientierte Beschreibung des Vorgehens zur Einführung ambidextrer Organisationsstrukturen. Sie finden den Premium Content am Ende des Beitrags.

Warum Ambidextrie?

Evolutionäre Entwicklung von Unternehmen

Wenn sich der Markt eines Unternehmens nur langsam verändert, hat das Unternehmen genügend Zeit, sich an ihn anzupassen. Es kann in aller Ruhe die in die Jahre gekommenen, ungeeigneten Organisationsstrukturen und Prozesse verändern. Und die Menschen haben Zeit, sich daran zu gewöhnen und notwendige Kompetenzen aufzubauen. Einige scheiden zwischenzeitlich aus und werden von anderen ersetzt, die besser zu den neuen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen passen.

Evolution von Organisationen in der S-MatrixDas entspricht der evolutionären Entwicklung von Unternehmen, die ich im Buch Der Organisations – Shift / Evolution und Transformation Ihres Unternehmens anhand der S-Matrix beschreibe. Die S-Matrix ist in nebenstehender Abbildung dargestellt. In diesem Blog finden Sie Informationen dazu im Beitrag Scharf – aber nicht zu scharf: Die richtige Organisationsform finden.

Ist eine solche evolutionäre Entwicklung der Organisation möglich, wird das Konzept der Ambidextrie nicht benötigt.

Ich gehe im Folgenden davon aus, dass Ihnen das Konzept der S-Matrix geläufig ist. Falls dem nicht so ist, empfehle ich Ihnen die informative Kurzvorstellung der S-Matrix im Beitrag Transformation – Survival – Kit.

Zunahme der Dynamik durch Digitalisierung

Heute haben viele Unternehmen nicht mehr ausreichend Zeit, sich allmählich an veränderte Marktbedingungen anzupassen. Der Grund hierfür ist die Digitalisierung. Sie durchdringt alle Bereiche unseres Lebens und der Wirtschaft:

  • Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert und in Datensätze verwandelt! (Carly Fiorina, CEO von Hewlett-Packard)
  • Alles, was vernetzt werden kann, wird vernetzt! (Timotheus Höttges, Vorstand der Telekom)
  • Alles, was automatisiert werden kann, wird automatisiert! (Gerd Leonhard, CEO von The Futures Agency)

Die Digitalisierung basiert auf Technologie-Konvergenz, also der Verschmelzung von lange Zeit unabhängigen Technologiefeldern. Den Beginn machten in den 90er-Jahren des letzten Jahrtausends die Verschmelzung der Informations- mit der Kommunikationstechnologie zur Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT, engl. Information and Communication Technology, ICT). Durch die weitere Konvergenz mit Bereichen der Biologie entstand übrigens später die Künstliche Intelligenz (KI, engl. Artificial Intelligence, AI). Der IKT folgte früh die Verschmelzung der Mechanik mit der Elektronik zur Mechatronik. Und diese neuen, aus Konvergenz hervorgegangenen Disziplinen bilden zusammen mit der Mikro- bzw. Nanotechnologie und der Automatisierungstechnik die technische Basis des aktuellen Stands der Digitalisierung.

Zunehmende Dynamik durch DigitalisierungZwei oft genannte Begleiterscheinungen der Digitalisierung sind eine zunehmende Dynamik und Komplexität. Die Informations- und Kommunikationstechnologie zeichnet sich seit ihrer Entstehung durch immer kürzer werdende Innovationszyklen aus. Ein Indiz dafür ist das aus dem Jahr 1965 stammende und noch immer gültige Moore’sche Gesetz. Es besagt, stark vereinfacht, dass sich die Leistung integrierter Schaltkreise alle 12 bis 24 Monate verdoppelt. Die anderen der genannten Technologiefelder stehen durch ihre Nähe zur IKT dieser kaum nach.

Daher sind auch Branchen bzw. Märkte, die von der Digitalisierung geprägt sind, hoch dynamisch. Und die in ihr tätigen Unternehmen sind Getriebene der Digitalisierung. Sie sind mit sich ständig verändernden oder neuen Marktbedingungen, Wettbewerbern, Kundengruppen, Kundenbedürfnissen und Produktanforderungen konfrontiert. Die Herausforderung ist hierbei nicht, dass sich etwas verändert. Sondern, dass wir es mit einer zunehmenden Veränderungsgeschwindigkeit – mit Beschleunigung – zu tun haben. Das führt zu einem exponentiellen Zuwachs an Veränderung. Man spricht in diesem Zusammenhang schon länger von der Exponentialität der Digitalisierung.

Tanker und Schnellboote – Eine Hinführung zur Ambidextrie

Diese exponentielle Zunahme der Dynamik von Wirtschaft und Gesellschaft steht im krassen Gegensatz zu dem großen Zeitbedarf für die Transformation einer Organisation. Denn mit dieser gehen tiefgreifende, kulturelle Veränderungen in der Organisation einher. Das stellt die Unternehmen in zunehmendem Maße vor Probleme.

Veränderungsprozesse dauern meiner Erfahrung nach umso länger, je größer eine Organisation ist. Darunter leiden besonders Unternehmen, die sich in der Senke der S-Matrix befinden. Deren Matrixorganisationen sind neben ihrer schieren Größe auch noch besonders kompliziert.

Hier kommen nun „Schnellboote“ ins Spiel. Die einzige Chance, sich als großes Unternehmen der südlichen Hälfte der S-Matrix – als „Tanker“ – schnell genug den Herausforderungen der Digitalisierung stellen zu können, ist die Ausprägung von „Schnellbooten“.

Tanker und Schnellboote in der S-MatrixIn dem nebenstehenden Bild ist die Matrixorganisation außen, kleine und einfache Organisationsformen weiter innen dargestellt. Um die Metapher fortzusetzen: Die Fliehkraft zwingt den Tanker gleichsam auf eine langsame Außenbahn. Je weiter innen sich eine Organisation befindet, desto schneller kann sie sich wandeln.

Eine drastische Option zur Ausprägung von „Schnellbooten“ ist die Aufspaltung einer großen, unbeweglichen Matrixorganisation in kleine, weitgehend autonome bzw. rechtlich eigenständige Organisationseinheiten. Diese können sich schneller anpassen und transformieren.

Es gibt aber auch weniger drastische Eingriffe. Eine schon lange bewährte Praxis ist, Innovations- oder Forschungsbereiche auszugliedern, um sie vor dem „schädlichen Einfluss der innovationsfeindlichen“ Stammorganisation zu schützen. Sie geht auf eine Empfehlung von Clayton Christensen in seinem bereits 1997 erschienenen Bestseller The Innovator’s Dilemma zurück. Demnach gelingen disruptive Innovationen am besten in kleinen, unternehmerisch geprägten Einheiten.

Beispiele gibt es mittlerweile viele: von den frühen Projekthäusern von Evonik über die T-Labs der Telekom bis hin zu aktuellen Initiativen, wie werk_39 powered by B. Braun, Merck Innovation Center oder Voith Innovation Lab.

Hier ist auch das Beispiel Google zu nennen: Google hat die Ausgliederung volatiler Organisationseinheiten in seiner Unternehmensstruktur verankert. 2015 strukturierte Google sein Unternehmen um. Die Kernorganisation Google wurde Teil der Holding Alphabet Inc. Langzeitprojekte und Innovationsbereiche von Google wurden ausgegliedert und in eigenen Unternehmen innerhalb von Alphabet geführt. Dazu gehörten zum Beispiel Calico (Biotechnologie, Gentechnik), Chronicle (Sicherheitstechnologie), Jigsaw (Betreuung von Unternehmensgründungen) oder Waymo (selbstfahrende Autos). Diese eigenständigen Einheiten erlaubten es Google, die nötige Stabilität für Kerngeschäftsfelder, wie Google Search oder Android, zu schaffen und gleichzeitig Innovation und Fortschritt zu fördern.

Das hier beschriebene Konzept von „Tankern“ und „Schnellbooten“ ist nichts anderes als Ambidextrie.

Was aber ist Ambidextrie nun genau?

Bei einem größeren Unternehmen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die einzelnen Unternehmensbereiche unterschiedliche Organisationsformen aufweisen. Und von einer Veränderung des Marktes sind meist auch nur bestimmte Organisationseinheiten betroffen. Dann sollten auch nur diese transformiert werden.

Wie vorher diskutiert finden wir eine solche Situation vor, wenn ein klassisch-hierarchisches Unternehmen aufgrund der Digitalisierung gezwungen ist, in bestimmten Bereichen deutlich schneller und flexibler zu werden. Dann werden dazu meist agile Arbeitsformen in diesen Organisationseinheiten eingeführt. Unten habe ich diese Situation unter Agile Inseln beschrieben.

Hier kommt die Ambidextrie – genauer die organisationale Ambidextrie – ins Spiel. Der Begriff beschreibt die Fähigkeit eines Unternehmens, sein bisheriges Stammgeschäft unverändert zu betreiben und gleichzeitig in neuen Geschäftsfeldern höchst innovativ zu sein. Ambidextrie stammt ursprünglich aus der Medizin und bezeichnet das Phänomen der Beidhändigkeit eines Menschen. Das ist die Fähigkeit, die eigenen Hände gleichwertig einsetzen zu können.

Charles O’Reilly und Michael Tushman befassten sich intensiv mit diesem Konzept und definieren Ambidextrie als Balance zwischen Exploitation und Exploration. Exploitation, das englische Wort für Ausbeutung, Verwertung und Nutzbarmachung, bezieht sich auf die Ausschöpfung existierender Kompetenzen eines Unternehmens. Das geschieht in bewährter Weise durch die mit der Zeit immer weiter optimierten klassisch-hierarchischen Organisationsstrukturen und Prozesse.

Ambidextrie in der S-MatrixBei der Exploration geht es um das Ausloten und Erobern der Zukunftsmärkte des Unternehmens. Start-up-ähnliche Organisationseinheiten entwickeln neuartige Produkte und Dienstleistungen und bringen sie auf den Markt bzw. schaffen dafür einen neuen Markt. Die passenden Organisationsformen hierfür finden sich in der Nordhälfte der S-Matrix.

Es gibt drei wesentliche Spielarten der Ambidextrie.

Strukturelle Ambidextrie

Nach O’Reilly und Tushman trennen erfolgreiche Unternehmen diese Organisationseinheiten klar voneinander. Wir sprechen dann von einer strukturellen Ambidextrie. Die Trennung ist „essenziell“, da Exploitation und Exploration gegensätzliche Strukturen, Prozesse und Kulturen benötigen.

Strukturelle Ambidextrie in der S-MatrixTrotz dieser Trennung müssen sie auf einer übergeordneten Ebene – nicht unbedingt einer hierarchischen – integriert werden, um Synergieeffekte für das Gesamtunternehmen zu erzielen. Erfolgt diese Integration auf „höherer“ Ebene im Top-Management eines hierarchischen Unternehmens, müssen die Manager das Wesen von Exploitation und Exploration gleichermaßen verstehen und sich in diesen bewegen können. Ist das gegeben, sind ambidextre Unternehmen meiner Erfahrung nach erfolgreicher als andere Unternehmenskonstellationen. Der Erfolg bezieht sich auf Innovation und Gewinnsteigerung.

Beispiel: Agile Inseln

Bei der Einführung agiler Konzepte in Teilbereichen eines Unternehmens spreche ich im Ergebnis von Agilen Inseln. Jedenfalls dann, wenn eine auf struktureller Ambidextrie basierende Umsetzungsstrategie gewählt wird. Und das ist aktuell der Standardfall. Denn die meisten Unternehmen verfügen über klassische Matrixorganisationen, die viel zu groß und zu weit weg von einer agilen Organisation sind, um sie ganzheitlich agil transformieren zu können. Sie stehen aber durch die Digitalisierung verstärkt unter Druck, schneller und flexibler zu werden.

Gegenüberstellung: Agile Organisationen und MatrixorganisationenDie agilen Inseln entsprechen allen Kriterien agiler Organisationen, wie sie im Artikel Die Agile Organisation ‘in a nutshell’ definiert werden. Die Führungskräfte fördern die Selbstverantwortung der Mitarbeiter und die Selbstorganisation innerhalb der agilen Organisationseinheit. Und sie schützen sie vor den „schädlichen Einflüssen“ der klassisch-hierarchischen Kernorganisation. Ganz so, wie eine agile Führungskraft handeln sollte, siehe der Beitrag Agile Führung – Persönlichkeit und Entwicklung agiler Führungskräfte.

Die Schnittstellen zur Stammorganisation werden mit Kanban-Boards realisiert. Ich nenne sie dann Schnittstellen-Boards. Das passt vor dem Hintergrund agiler Konzepte perfekt. In agilen Arbeitsorganisationen ist das Kanban-Board das Standardwerkzeug zur Organisation der Arbeit. Und es ist gleichzeitig so etwas wie „agile light“. Ein Kanban-Board kann somit auch in klassisch organisierten Unternehmensbereichen eingesetzt werden, ohne „Knoten im Hirn“ zu erzeugen:

  • Die für die agile Organisationseinheit vorgesehenen Aufgaben werden dem klassischen Projektmanagement entnommen. Sie werden dann als Aufgabenkarten auf dem Schnittstellen-Board entsprechend ihrer Priorität platziert.
  • Die agile Organisation übernimmt diese Aufgaben während ihrer Sprint-Planung in ihr Sprint-Board. Oder, falls sie nicht zum nächsten Sprint passen, verbleiben sie zunächst auf dem Schnittstellen-Board.
  • Umgekehrt platziert die agile Organisation ihrerseits Aufgabenkarten auf dem Schnittstellen-Board. Das geschieht ebenfalls während der Sprint-Planung. Eine Kopie verbleibt im Sprint-Board. Damit kann der Status der Aufgabenbearbeitung täglich, während des Daily Standups, verfolgt werden.
  • Der Projektleiter des klassisch arbeitenden Bereichs übernimmt die für ihn gedachten Aufgaben vom Schnittstellen-Board in sein Projektmanagement. Anschließend weist er sie einem Mitarbeiter zur Bearbeitung zu.

Um diese Art der Zusammenarbeit zu realisieren, bedarf es dann nur noch einer Handvoll von Verabredungen und Regeln. Durch den Einsatz des Schnittstellen-Boards wird eine überdurchschnittliche Transparenz geschaffen, die auch klassisch arbeitenden Teams eine Hilfe ist.

Um das Kanban-Board auf diese Weise zu nutzen, ist kein großer Lernaufwand seitens der klassisch denkenden Mitarbeiter erforderlich. Freilich wird so das Potenzial, das diesem Konzept innewohnt, nur zu 5% genutzt. Aber für das Ziel einer guten Organisation der Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlich „tickenden“ Bereichen reicht das aus.

Eine ideale Organisationsform für strukturelle Ambidextrie ist übrigens die Schwarmorganisation. In dieser kann die bisherige klassisch-hierarchische Stammorganisation in schlanker Form erhalten bleiben und bildet mit anderen, kulturell verschiedenen Organisationseinheiten ein Netzwerk. Aktuell zeigen uns Alibaba und Google, wie erfolgreich dieser Ansatz ist.

Kontextuelle Ambidextrie

Kontextuelle Ambidextrie in der S-MatrixOft wird versucht, ohne die organisatorische Trennung von explorativen und exploitativen Bereichen entsprechend der strukturelle Ambidextrie auszukommen. Denn das bedeutet in der Praxis meist einen größeren organisatorischen Aufwand.

Stattdessen soll in ein und derselben Organisation Exploitation und Exploration gleichzeitig verfolgt werden. Wir sprechen dann von einer kontextuellen Ambidextrie. Manche nennen diesen Ansatz auch duale Organisation, bimodale Organisation oder eine Organisation mit zwei Betriebssystemen. Je nach aktueller Projektphase oder Aufgabe wird entweder

  • explorativ nach neuen, noch nie dagewesenen Lösungen gesucht und neue Märkte erschlossen bzw. geschaffen oder
  • bestehendes Geschäft auf Basis vorhandener, etablierter Lösungen weiterentwickelt und ausgebaut.

Zur Realisierung dieses Konzeptes werden Programme für Mitarbeiter und Führungskräfte entwickelt, in deren Verlauf sie die beiden unterschiedlichen Denkweisen sowie ambidextre Führung lernen (sollen). Letzteres wird auch digitales Führen genannt, weil das Thema fast immer im Kontext der digitalen Transformation auftaucht.

Kontextuelle Ambidextrie funktioniert am ehesten in forschungs- und entwicklungsintensiven Bereichen größerer Unternehmen und während der Wachstumsphase junger Unternehmen. Also immer dann, wenn eine rein explorative Vorgehensweise die notwendige Prozess-Sicherheit für das angepeilte Wachstum nicht gewährleisten kann.

Zeitliche Ambidextrie

Manchmal wird zusätzlich zur kontextuellen und strukturellen auch noch von einer zeitlichen Ambidextrie gesprochen. Sie beschreibt einen wiederholten Wechsel zwischen einer explorativen und exploitativen Struktur der Gesamtorganisation. Solche Unternehmen konzentrieren sich also nacheinander entweder auf Exploitation oder Exploration, statt gleichzeitig, wie bei den beiden vorher diskutierten Varianten.

Diesen Wechsel beobachte ich in der Praxis nur ansatzweise bei den wenigen Organisationen, die ihrer Natur nach einer Schwarmorganisation gleichen, siehe Die Schwarmorganisation ‘in a nutshell’. Für klassische Unternehmen oder Organisationsbereiche ist es praktisch unmöglich, diesen ständigen Wechsel zu vollziehen. Denn das würde bedeuten, dass alle Mitarbeiter einer Organisation zwischen Exploration und Exploitation umschalten und im jeweiligen Modus gute Leistungen erbringen können.

Herausforderungen der Ambidextrie

Händigkeit - RechtshänderFür Menschen, die nicht mit einer angeborenen Ambidextrie gesegnet sind, ist es eine enorme Herausforderung, eine Aufgabe gleich gut mit der linken und der rechten Hand zu erledigen. Denken Sie nur daran, als Links- oder Rechtshänder mit der jeweils anderen Hand zu schreiben. Ein Spaß auf jedem Kindergeburtstag.

Genauso geht es den Unternehmen, die auf ihrem Gebiet „richtig gut“ sind. Sie hatten in der Vergangenheit Erfolg, weil sie auf eine bestimmte Weise hervorragende Leistungen erbracht haben. Wenn diese Unternehmen an bestimmte Aufgaben nun ganz anders herangehen sollen, sieht das ähnlich aus wie im Bild. Und fatal ist: Je besser ein Unternehmen in seinem Kerngeschäft ist, desto schwerer fällt ihm das.

Das ist zum einen der Grund für die Einführung von Ambidextrie und gleichzeitig die größte Herausforderung, mit der wir es dabei zu tun haben. Denn meist sind wir gezwungen, Ambidextrie mit den Menschen umzusetzen, die eigentlich viel lieber weiterhin so arbeiten wie bisher. Der Grund dafür ist der Cultural Fit.

Passung von Mensch und Organisation: Cultural Fit

Es existiert eine Passung von Mensch, Organisation, Rolle und Situation. Diese vier Faktoren beeinflussen sich gegenseitig. Die Passung der Persönlichkeit eines Menschen zum Unternehmen und zu seinem Arbeitsgebiet entscheidet darüber, wie leistungsfähig, motiviert und zufrieden er ist.

Jede Organisation zieht die zu ihrer Kultur „passenden“ Menschen an und bindet sie als neue Mitarbeiter an sich. Kennzeichnend dafür ist eine geringe Fluktuation. Passend heißt in diesem Zusammenhang, dass die individuellen Wertesysteme der Menschen gut mit den kulturbestimmenden Werten der Organisation harmonieren. Man nennt das Cultural Fit. Das gilt für jede mögliche Organisationsform und deren kulturbestimmenden Werte.

Die Bindung entsteht, weil sich die Mitarbeiter in der Organisation zuhause fühlen und das Unternehmen ihnen einen individuellen Sinn vermittelt. Denn wenn ihre Werte von den Kollegen geteilt werden, entsteht Nähe und ein tiefes, gegenseitiges Verständnis. Man sieht die Welt mit derselben Brille. Man handelt aus subjektiver Sicht den eigenen Werten entsprechend richtig und gut – und damit sinnvoll. Und deshalb sind die Mitarbeiter mit kompatiblem Wertekanon sowohl glücklich als auch intrinsisch motiviert. Sie sind dadurch leistungsbereit, engagiert, erfolgreich und loyal. Die Organisation wiederum honoriert den damit einhergehenden Erfolg der Mitarbeiter. Das tun sie zum Beispiel durch Incentives oder nicht monetären Belohnungen, die Wertschätzung ausdrücken. Das steigert die Motivation weiter. Insbesondere dann, wenn die extrinsischen Anreize intrinsische Bedürfnisse der Menschen befriedigen. Die Kultur und die Menschen passen einfach zueinander!

Gegenüberstellung: Explorative und exploitative OrganisationenNun sind die Werte bzw. Kultur sowie die Prinzipien und Praktiken in explorativen und exploitativen Organisationen grundverschieden. Das heißt, wir brauchen auch unterschiedliche Persönlichkeiten für die jeweiligen Organisationseinheiten – bei der strukturellen Ambidextrie – bzw. zur Bearbeitung der jeweiligen Aufgaben – bei der kontextuellen Ambidextrie. Das ist in vielen Unternehmen eine echte Herausforderung. Denn die Mehrheit der dort tätigen Menschen werden wegen des Cultural Fit eher dazu neigen, das Bestehende zu erhalten und zu optimieren, statt sich auf die Suche nach gänzlich Neuem zu machen.

Übrigens: Vergleicht man die Charakterisierung explorativer Organisationseinheiten im Konzept der Ambidextrie mit agilen Organisationen fällt auf, dass sie sich „bis aufs Haar“ gleichen. Das ist natürlich naheliegend, denn Exploration ist das Wesen agiler Problemlösungen. Spannend finde ich aber, dass sie aus unterschiedlichen und voneinander unabhängigen Denkwelten stammen. Trotzdem kommen sie zu den gleichen Empfehlungen für den erfolgreichen Umgang mit komplexen Situationen.

Herausforderungen der strukturellen Ambidextrie

Herausforderungen der strukturellen Ambidextrie in der S-MatrixBei der strukturellen Ambidextrie bleibt der Großteil der Organisation als Kern-, Stamm- oder Mutterorganisation mit ihrer bisherigen Organisationsform erhalten. Diese befindet sich meist im Süden der S-Matrix und bedient, wie in der Vergangenheit, ihre reifen Märkte. Die Organisationseinheiten, die neue, dynamische und oftmals digitale Märkte erschließen sollen, befinden sich hingegen in der Nordhälfte. Sie werden entweder ausgegründet oder neu geschaffen.

Die größten Herausforderungen einer solchen Separierung sind seit jeher das Not invented here-Syndrom (NIH-Syndrom) und die Kulturunterschiede zwischen Mutter und Tochter. Beim Not invented here-Syndrom zeigt eine Gruppe die Tendenz, Ideen und Lösungen aus Quellen außerhalb der Gruppe abzulehnen. In unserem Fall sind solche Gruppen Projektteams, Abteilungen oder Unternehmensbereiche der Mutter, die die Innovationen des ausgegliederten Bereichs ablehnen. Das führt dazu, dass die Beschäftigten des Mutterunternehmens die Errungenschaften und Leistungen der externen Einheit geringschätzen und ablehnen.

Es gibt fünf Ursachen für das Auftreten des NIH-Syndroms:

  • die Überzeugung, dass die besten Experten immer noch Teil des Mutterunternehmens sind und die internen Kompetenzen daher denen der meist durch externe Experten verstärkten, ausgegliederten Organisationseinheiten überlegen sind;
  • Frustration oder Angst des Führungspersonals und der fachlich Verantwortlichen vor Kontrollverlust (kein Zugriff auf die externe Einheit);
  • Frustration oder Angst der Führungskräfte und Experten vor einem Verlust an Bedeutung, Anerkennung und Status (gegenüber der externen Einheit);
  • Ablehnung von allem Fremden und Neuen;
  • Frustration oder Angst vor einem Verlust von Stabilität und Konstanz (Ablehnung von Veränderung).

Die erste Ursache ist meist der Grund dafür, dass an eine externe (Innovations-) Einheit gar nicht erst gedacht wird. Sie ist das Ergebnis früherer Innovationserfolge und einer langfristig unveränderten Zusammensetzung bislang erfolgreicher Teams („never change a winning team“). Die beteiligten Personen sind stolz auf das Erreichte und können sich nicht vorstellen, dass andere ähnlich gute Arbeit leisten. Tatsächlich sind einige besonders erfolgreiche Unternehmen auch besonders vom Absturz bedroht. Beispiele hierfür gibt es genug und sind allseits bekannt: Kodak, Netscape, Nokia, Quelle und viele weitere.

Die kulturellen Unterschiede entstehen durch die unterschiedlichen Organisationsformen von Mutter und Tochter. Sie führen zu Missverständnissen und einer emotional bedingten Ablehnung der ausgegliederten Organisationseinheit und ihrer Werte. Wir hatten darüber unter dem Stichwort Cultural Fit bereits gesprochen.

Herausforderungen der kontextuellen Ambidextrie

Herausforderungen der kontextuellen Ambidextrie in der S-MatrixDie Herausforderung bei der kontextuellen Ambidextrie besteht darin, die Organisation so zu gestalten, dass sie die deutlich unterschiedlichen Vorgehensweisen der Exploitation und Exploration akzeptiert und zulässt. Besser noch unterstützt und fördert sie einen produktiven Umgang mit beiden Varianten. Seitens der Führung ist es wichtig, für eine optimale Balance zwischen diesen beiden Vorgehensweisen zu sorgen.

Ich beobachte allerdings, dass der Ansatz der kontextuellen Ambidextrie häufiger scheitert und nicht den gewünschten Erfolg hinsichtlich der Erschließung neuer Märkte bringt. Den Hauptgrund sehe ich darin, dass es unterschiedlicher Persönlichkeiten für beispielsweise klassisch-hierarchische und agile Arbeitsumgebungen bedarf. Diese beiden Organisationsformen sind hinsichtlich ihrer Kultur und den kulturbestimmenden Werten grundsätzlich verschieden. Und kaum eine Führungskraft – und auch nur wenige Mitarbeiter – können die mit diesen gegensätzlichen Organisationsformen verbundenen Werte in sich vereinen. Wir hatten das beim Cultural Fit diskutiert.

Und wenn die beiden Konzepte nicht gleichzeitig in den Menschen angelegt sind, sind wir schnell wieder bei einer strukturellen Separation. Diesmal aber ungesteuert und chaotisch. In der Folge erleben wir dann einen andauernden „Kampf der Kulturen“ und gegenseitige Blockaden.

Ambidextrie in der Praxis

Beispiele

Ambidextrie hilft etablierten, eher klassisch organisierten Unternehmen, sich sprunghaft-disruptiv weiterzuentwickeln. Sie sind mit ihren „Schnellbooten“ in der Lage, in hoch dynamischen Märkten erfolgreich zu operieren. Übrigens erlaubt Ambidextrie auch, die Kernideen des New Work Konzeptes in diesen eher konservativen Unternehmen umzusetzen und damit für dringend benötigte Experten attraktiver zu werden. Hier zwei Beispiele:

Elektromobilität

Der Paradigmenwechsel von konventionellen Antrieben, wie Otto- oder Dieselantrieb, zu elektrischen Antrieben zwingt Fahrzeughersteller und Automobilzulieferer zu einem drastischen Strategiewechsel. Vor allem deutsche Unternehmen sind davon stark betroffen, weil sie viel zu lang an fossilen Brennstoffen festgehalten haben.

Einigen von mir beratenen OEM, wie Daimler, ist es gelungen, durch die Konzentration aller Entwicklungsaktivitäten im Bereich Elektromobilität in eigens dafür geschaffenen, agilen Organisationseinheiten hier etwas an Boden gut zu machen. Auch die großen Zulieferer, wie Bosch und Continental, gehen diesen Weg.

Von „Schnellbooten“ würde ich hier allerdings nicht sprechen. Dafür sind die neu geschaffenen Einheiten viel zu groß und zu schwerfällig. Und die darin tätigen Menschen stammen überwiegend aus der Mutterorganisation und hängen an klassisch-hierarchischen Organisationsstrukturen.

Diese Branche ist noch immer im Umbruch und es fehlt oft an Mut, wirklich neue Wege auf Basis von ambidextren Konzepten zu gehen.

Versicherungen

Eine mögliche Erfolgsgeschichte aus der Versicherungsbranche könnte die international tätige Ergo Group werden. Dieser Konzern hat unter dem Dach der Ergo Digital Ventures AG alle Tochtergesellschaften vereint, die in den Bereichen Direktversicherung und Digitalgeschäft operieren. Sie bündelt damit die Bestrebungen der Gruppe zur Digitalisierung der Versicherung.

Ergo befindet sich seit mehr als drei Jahren in einem Transformationsprozess, der das Unternehmen aus eine Jahrzehnte andauernden „prädigitalen Ära“ in eine digitale Zukunft bringen soll. Ambidextrie findet in vielen Varianten Anwendung. So werden immer wieder andere Teile der Stammorganisation „herausgebrochen“ und einer agilen Transformation unterzogen. Zudem gibt es mit der „Digital Factory“ eine vollständig agile Organisationseinheit. Mit 160 Mitarbeitern werden hier eine Vielzahl unterschiedlicher digitaler Tools – insbesondere Bots für die Robotic Process Automation – entwickelt.

Auch bei der Softwareentwicklung nutzt Ergo die Vorteile der strukturellen Ambidextrie. Die Bestandssysteme werden von den bisherigen Entwicklern der Stammorganisation gepflegt und weiterentwickelt. Parallel entstehende Neu-Systeme, die die Bestandssysteme in Zukunft ablösen sollen, werden in separaten Organisationseinheiten von Null auf neu entwickelt. Die dort tätigen Menschen sind eigens dafür rekrutiert worden und weisen ganz andere Persönlichkeitsmerkmale auf. Sie arbeiten 100% agil und nutzen die modernsten Methoden der Softwareentwicklung.

Strukturelle Ambidextrie in der Digitalisierung: Digital Innovation Units (DIY)

Als Begriff für separate Innovationseinheiten zur Entwicklung innovativer digitaler und digital angereicherter Produkte und Services hat sich Digital Innovation Unit (DIU) etabliert. Es handelt sich um explorative Organisationseinheiten von Unternehmen, deren Umsetzung dem Konzept der strukturellen Ambidextrie folgt. Die Idee stammt von Clayton Christensen.

DIUs haben immer eine Organisationsform, die in der Nordhälfte der S-Matrix angesiedelt ist. Es sind also zum Beispiele Projektorganisationen, agile Organisationen oder Schwarmorganisationen. Denn nur so können sie die von Christensen beschworene Start-up-Mentalität entwickeln.

Die DIU können dabei unterschiedliche Arbeitsorganisationen und Arbeitsschwerpunkte haben, zum Beispiel:

  • Bündelung unternehmensinterner Ressourcen in einem oder mehreren interdisziplinären, crossfunktionalen Teams in autonomen Organisationseinheiten zur Entwicklung digitaler Innovationen;
  • Gründung bzw. Unterstützung von rechtlich eigenständigen Start-ups zur Entwicklung neuartiger Geschäftsideen;
  • Zusammenarbeit mit unternehmensexternen Start-ups zur Weiterentwicklung und Skalierung von deren innovativen Geschäftsideen im eigenen Mutterunternehmen.

Laut einer vom Magazin Capital medial begleiteten Studie vom Beratungshaus Infront gibt es in Deutschland im Jahr 2019 mehr als 200 Digital Innovation Units. Sie verzeichnen jährlich zweistellige Zuwachsraten. Mehr als ein Viertel davon ist in Berlin ansässig. Im Jahr 2017 attestierte ihnen die Studie einen erheblichen Nutzen für ihre Mutterunternehmen:

  • 90 % aller Unternehmen sind mit ihrer Digital Innovation Unit alles in allem sehr zufrieden.
  • 80 % aller Digital Innovation Units haben einen sehr hohen Nutzen für das Trägerunternehmen, allerdings ist ihre wirtschaftliche Relevanz heute noch ausgesprochen gering.
  • 97 % der Digital Innovation Units haben einen Effekt auf die digitale Transformation des Unternehmens, doch nur 15 % sind auch die treibende Kraft der digitalen Transformation im Unternehmen.
  • 62 % haben inkrementelle Innovationen und Innovationen rund ums Kerngeschäft des Mutterunternehmens hervorgebracht, aber das Ziel radikaler und disruptiver Innovationen erreichen aktuell lediglich 38 % der Befragten.
  • 70 % aller Digital Innovation Units haben einen positiven Einfluss auf das Image des Unternehmens, dennoch geben sie bisher nur schwache Impulse für den kulturellen Wandel.

Der Studie zufolge gehören aktuell folgende DIU zur Spitzengruppe in Deutschland: Audi Denkwerkstatt, EnBW Innovation, ProSiebenSat.1 Accelerator, SAP Innovation Center Network und Viessmann WATTx.

Vorgehen zur Einführung von Ambidextrie

Im Premium Content zu diesem Beitrag finden Sie eine praxisorientierte Beschreibung des Vorgehens zur Einführung ambidextrer Organisationsstrukturen. Die einzelnen Schritte sind am Ende in einer Checkliste zusammengefasst.