Fehleinschätzungen der Digitalisierung, Teil 1 – Der Frosch im Topf

Auf dem Gipfel des Hypes um die agile Organisation wird verstärkt die Frage nach dem “Warum?” gestellt. Die Antwort besteht aus einem einzigen Wort: Digitalisierung.

Und damit haben wir es jetzt mit zwei Begriffen zu tun, die entweder Begeisterung auslösen oder manchem Top-Entscheider wahlweise den Angstschweiß oder tiefe Falten der Skepsis auf die Stirn treiben – agile Organisation und Digitalisierung. Lesen Sie im Folgenden, warum für einige Verantwortliche in den Unternehmen Digitalisierung ein Reizwort ist.

In dieser Reihe beleuchte ich drei Fehleinschätzungen im Zusammenhang mit der digitalen Transformation. In diesem ersten Teil diskutiere ich, warum das Thema Digitalisierung bei einigen Entscheidern noch immer nicht angekommen ist – vor allem im Mittelstand. Im zweiten Teil geht es um die Priorität, mit der die Digitalisierung angegangen wird. Und im dritten um die richtige Verortung des Themas im Unternehmen sowie geeignete Organisationsformen für eine erfolgreiche digitale Transformation.

Das Fremdeln der Entscheider

So mancher Entscheider hadert noch immer mit diesen drei Fakten:

  1. Die Digitalisierung betrifft jedes Unternehmen.
  2. Sie birgt so große Risiken und gleichzeitig epochale Chancen, dass sie mit höchster Priorität auf die Agenda des Top-Managements gehört.
  3. Die digitale Transformation findet nicht in der IT-Abteilung statt, sondern im ganzen Unternehmen.

Die Studienlage scheint diese Einschätzung nicht ganz zu bestätigen, egal ob wir den Digital Transformation Index von Dell Technologies, den Digitalisierungsmonitor von BearingPoint oder den Deutschen Industrie 4.0 Index von Staufen lesen. Danach haben die Führungsetagen unisono die dringende Notwendigkeit und überragende Bedeutung einer digitalen Transformation erkannt.

Im persönlichen Gespräch löst sich dieser Widerspruch dann auf: Die Entscheider bestätigen zwar den Befund – aber nur für andere Unternehmen! Für ihr eigenes sehen sie dagegen das Thema Digitalisierung als nicht relevant an oder bescheinigen sich, auf diesem Gebiet führend zu sein. Beides trifft nach meiner Beobachtung häufig nicht zu und sind deutliche Hinweise auf ein tiefes Unverständnis der Situation.

In diesem Artikel gehe ich auf die erste Fehleinschätzung ein: Das Thema Digitalisierung betrifft unser Unternehmen nicht. Sie hat zwei Ursachen: Die Relevanz der digitalen Transformation wird entweder wirklich nicht erkannt oder wider besseren “Bauchgefühls” geleugnet.

Das Risikoparadox

Die Relevanz der digitalen Transformation wird dann nicht richtig erkannt, wenn ihre möglichen Konsequenzen unklar sind. Dann werden sowohl die in ihr liegenden Chancen als auch die Risiken falsch eingeschätzt. Wie kann das sein?

Wir fürchten uns meist vor dem Falschen! (Ortwin Renn, Risikoforscher)

Wir fürchten uns meist vor dem Falschen und schätzen somit Risiken falsch ein. Das meint Risikoforscher und Direktor des Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) Professor Ortwin Renn in seinem Buch Das Risikoparadox. Und dafür gibt es nach seinen Erkenntnissen psychologische und soziologische Gründe.

Ein ganz wesentlicher Grund ist, dass wir Ursache und Wirkung immer in örtlicher oder zeitlicher Nähe sehen. Deshalb ordnen wir bestimmten Symptomen falsche Ursachen zu. Zum Beispiel führen aktuell einige Unternehmen ihre Umsatzeinbußen auf die sich abzeichnende Abschwächung der Konjunktur in 2019 zurück, und nicht auf ihr Portfolio von zum Teil hoffnungslos unterlegenen nicht-digitalen Produkten.

Was bedroht uns tatsächlich? Welche Risiken unterschätzen wir? Es sind die systemischen Risiken, die sich schleichend und unbemerkt zu realen Gefahren entwickeln, ehe sie zu dramatischen Konsequenzen führen. Wir verhalten uns angesichts solcher Risiken wie ein Frosch im Topf mit kaltem Wasser, das wir langsam erhitzen. Der Frosch bleibt im Topf, bis er den Hitzetod stirbt. Würden wir ihn erst ins Wasser werfen, wenn es schon heiß ist, versucht er sofort und mit aller Kraft zu entkommen. Ja, ich weiß. Das stimmt gar nicht. Aber die Metapher passt einfach so gut zur Situation der Digitalisierung, dass ich nicht widerstehen konnte!

Risikoparadox Risiken Digitalisierung falsch einschätzenSystemische Risiken sind gefühlt von eher geringer Bedeutung. Tatsächlich handelt es sich aber um große Risiken und haben erhebliche Konsequenzen, wenn sie eintreten. Sie sind überall auf der Welt relevant. Systemische Risiken entwickeln sich meist langsam – schleichend – und nicht-linear. Das heißt zum Beispiel, sie können viele Jahre lang nahezu unverändert sein und dann plötzlich dramatisch zunehmen. Sie entstehen durch das Zusammenwirken einer Vielzahl von Einzelfaktoren. Durch diese vernetzen Wirkungen ist ein kausaler Zusammenhang nicht einfach erkennbar. Hier einige Entwicklungen, die systemische Risiken für Unternehmen beinhalten:

  • ein fehlgeleiteter Kapitalismus, der sich zuletzt 2007 in Form der Banken- und Finanzkrise als katastrophales Ereignis realisiert hat,
  • der zunehmende Zerfall der Gesellschaft, der in den letzten Jahren totalitären Systemen Vorschub geleistet hat und zu Unruhen sowie wirtschaftlicher Instabilität führen,
  • der Klimawandel, der mittlerweile jährlich mehr volkswirtschaftliche Kosten verursacht als alle jemals getätigten Ausgaben für den Klimaschutz zusammen und
  • die Digitalisierung, deren Konsequenzen von vielen Menschen und Unternehmen drastisch unterschätzt und zu einem Massensterben der Digital Rookies führen wird.

Dem gegenüber stehen die individuellen Risiken, die gefühlt groß, objektiv aber selten wirklich gefährlich sind. Sie treten meist plötzlich auf und sind in dem Moment neu. Sie betreffen uns emotional und haben einen gewissen “Sensationscharakter”. Und es gibt immer einen einfachen Ursache-Wirkung-Zusammenhang. Beispiele individueller Risiken für Unternehmen sind der Verlust eines großen Kunden, ein Projekt in Schieflage, der Weggang eines wichtigen Mitarbeiters, Streikdrohungen, Ärger mit der Bank oder der Ausfall eines wichtigen Lieferanten. Individuelle Risiken werden häufig vorgeschoben, um sich nicht mit der digitalen Transformation beschäftigen zu müssen. Nach dem Motto: Ich muss mich erstmal um die alltäglichen Katastrophen kümmern, ehe ich mich mit Themen wie der Digitalisierung befassen kann.

Systemische Risiken können, im Gegensatz zu individuellen Risiken, nicht von einzelnen oder wenigen Menschen beeinflusst werden. Dafür sind Anstrengungen von nahezu allen Beteiligten und Betroffenen erforderlich. Daher fühlen sich viele ohnmächtig angesichts systemischer Risiken und hoffen stattdessen, dass gesellschaftliche Institutionen und Regierungen die Risiken verringern.

Kognitive Dissonanz

Die Menschen fühlen sich angesichts systemischer Risiken oft auch unwohl und empfinden Stress. Der Grund dafür ist eine kognitive Dissonanz. Das ist ein innerer Konflikt, der durch Wahrnehmungen, Meinungen, Einstellungen oder Bedürfnisse entsteht, die jemand in sich trägt, die aber nicht gleichzeitig miteinander vereinbar sind. Man fühlt oder weiß, dass man dringend etwas zur Verringerung eines systemischen Risikos tun muss, sieht sich aber nicht in der Lage dazu.

Kognitive Dissonanz Lethargie DigitalisierungIn Zusammenhang mit der Digitalisierung tritt kognitive Dissonanz zum Beispiel dann auf, wenn die Verantwortlichen ahnen, dass sie die digitale Transformation ihres Unternehmens mit hoher Priorität voranbringen sollten. Gleichzeitig fühlen sie sich aber überfordert und hilflos angesichts der Komplexität des Themas. Sie bringen daher nicht den Mut und die Energie dafür auf. Ihr Verhalten folgt dann oft folgendem Muster:

  • Ignorieren: Die Digitalisierung wird nicht zur Kenntnis genommen. Ihre Existenz wird geleugnet. Die Verantwortlichen entziehen sich jedem Kontakt mit dem Thema. Sie tauchen ab, gehen in Deckung und stecken den Kopf in den Sand.
  • Leugnen: Die Bedeutung der digitalen Transformation wird heruntergeredet. Die Verantwortlichen überzeugen sich selbst davon, dass es sich nur um einen Hype handelt, der auch wieder vorübergeht und wenn, dann sowieso nur andere Unternehmen betrifft.
  • Abwehren: Verfechter der digitalen Transformation werden bekämpft und Nebenkriegsschauplätze eröffnet. Die Verantwortlichen unterstellen Experten, das Thema Digitalisierung aus niederen Beweggründen künstlich hochzukochen. Oder der Politik, nicht rechtzeitig die Weichen gestellt zu haben und überhaupt industriefeindlich zu agieren. Bei dieser Gelegenheit werden dann auch die mangelhaften Rahmenbedingungen für eine digitale Transformation in Deutschland beklagt.
  • Reagieren: Die digitale Transformation wird trotz der kognitiven Dissonanz angegangen, die negativen Gefühle beiseite geschoben. Die Verantwortlichen ändern ihre Haltung und nehmen einen neuen Blickwinkel ein. Das Thema wird breit im Unternehmen verankert und offen diskutiert. Die besten Mitarbeiter bilden zusammen mit der Unternehmensleitung ein Team und arbeiten gemeinsam an der digitalen Transformation. Sie holen sich Unterstützung durch Experten. Die eintretenden Erfolge lösen dann die kognitive Dissonanz auf.

Die Lethargie überwinden

Falls Sie dem Risikoparadox und der kognitiven Dissonanz erlegen sind, sollten sie diese rasch hinter sich lassen und reagieren. Sie brauchen einen offenen, unverstellten Blick auf das Thema Digitalisierung, um es richtig machen zu können! Diesen können Sie entwickeln, indem Sie die im ersten Abschnitt genannten Fakten für Ihr Unternehmen akzeptieren und dann wichtige Kernfragen beantworten:

  • Welche digitalen Innovationen kommen für unser Unternehmen in Frage? Gibt es Möglichkeiten zur Digitalisierung unserer Prozesse, Produkte oder unseres Geschäftsmodells?
  • Mit welcher Organisationsform können wir diese Innovationen realisieren? Reichen neue Rollen sowie interdisziplinäre und crossfunktionale Teams, um smarte Produkte zu entwickeln und auf den Markt zu bringen? Oder benötigen wir eine agile Organisation oder Schwarmorganisation, um digitale Geschäftsmodelle zu verfolgen?
  • Wie verändert sich unsere Wertschöpfung durch die Digitalisierung? Welche Wertversprechen geben wir zukünftig unseren Kunden?
  • Welche neuen Möglichkeiten zur Gestaltung unserer Kundenbeziehungen ergeben sich daraus? Könnten Open Innovation und Co-Creation passende Optionen sein?
  • Und wie gehen wir im Zuge der digitalen Innovation mit unseren Wettbewerbern und Lieferanten um? Müssen wir vielleicht von einer Wertschöpfungskette zu einem Wertschöpfungsnetzwerk mit Kunden, Partnern und Wettbewerbern kommen?

Elemente ganzheitliche DigitalisierungsstrategieWir nutzen ein schlankes Vorgehen zur fundierten Beantwortung dieser Fragen. Das Ergebnis ist eine Digitalisierungs-Roadmap, in deren Zentrum eine ganzheitliche Digitalisierungsstrategie steht – die im Grunde die Unternehmensstrategie ist. Dabei werden die genannten Aspekte Kunden, Organisation, Wertschöpfung, Innovation und Wettbewerb für sich und im Zusammenspiel miteinander für Ihr Unternehmen untersucht. Das geschieht im Rahmen einiger genau auf das Ökosystem Ihres Unternehmens abgestimmten Workshops.

Wir begleiten auch die Umsetzung dieser Digitalisierungs-Roadmap, die digitale Transformation. Sie beginnt sofort, nachdem die Digitalisierungs-Roadmap gezeichnet wurde. Sie erfolgt kontinuierlich und in kleinen Schritten. Dabei werden rasche Erfolge angestrebt, gleichzeitig aber der Organisation Zeit gegeben, einen digitalen Mindset zu entwickeln. Deshalb transformieren auch Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst das Unternehmen. Wir bringen Digitalisierungsexpertise ein und befähigen die Menschen Ihrer Organisation. Und wir begleiten den Prozess als Coach und Sparringspartner.

Haben Sie Interesse an einer Unterstützung bei Ihrer digitalen Transformation? Dann nehmen Sie Kontakt zu mir auf!